Fahrrad Island

Island per Fahrrad, Teil 3 – Die einsamen Westfjorde

Die Westfjorde sind eine der einsamsten und abgelegensten Regionen Islands. Wer einen kleinen Vorgeschmack auf die Weiten des Hochlandes im Zentrum der Insel bekommen will, findet hier ähnliche Voraussetzungen. Auch heute sind hier noch viele der Hauptstraßen, die die kleinen Fischerdörfer miteinander verbinden, nur in wenigen Sommermonaten verlässlich geöffnet. Selbst die Hauptverbindungsadern sind längst nicht alle geteert und winden sich als raue Schotterpisten über die Berge. Der Nordwesten war schon in früheren Jahren Rückzugsgebiet für viele Einheimische, denen es in den anderen Teilen der Insel einfach zu voll geworden war. Mit dem Rad unterwegs zu sein, bedeutet, dort viele steile Anstiege zu bewältigen und oft tagelang gegen den Wind zu fahren.

Unterwegs in der Einsamkeit

Als ich von der Fähre rolle, will ich noch einmal in Flókalundur, 6 km östlich des Fähranlegers, Verpflegung nachkaufen, da es auf dem eigentlichen direkten Weg nach Latrabjarg keinen einzigen Laden gibt. Doch der kleine Laden hat geschlossen – man hat am Anfang der Saison kaum mit Touristen gerechnet! Der nächste Laden ist in Patreksfjörður, gut 70 km entfernt und für mich mit einem 25 km langen Umweg verbunden. Da zusätzlich die Mücken bei Windstille Party machen, bleibt der Campingkocher aus und ich esse köstlichen Dorsch im Restaurant des dortigen Hotels.

Am nächsten Tag geht es immer weiter am Fjord entlang: Hier und da mal eine Farm mit Schafen und sogar Kühen, lange Strände und weite Ebenen bestimmen das Bild. Irgendwo im Nirgendwo taucht dann der urige, fast direkt am Meer gelegene Pool von Birkimelur auf. Danach beginnt bald der 8 km lange Aufstieg über die Kleifaheiði, eine 400 m hohe Gebirgsstraße, die im Winter oft durch Schnee und Stürme blockiert ist. Oben grüßt vor der langen Abfahrt die Steinbüste Kleifabúi, eine Figur, die Straßenarbeiter hier errichtet haben.

Die letzten 13 km nach Patreksfjörður schleiche ich bei Gegenwind in Sturmstärke wie eine Schnecke am Meer entlang. Ich habe selten Strecken erlebt, auf denen ich sogar bei 10 % Gefälle in die Pedale treten musste. Patreksfjörður ist ein kleines Fischerdorf mit knapp 800 Einwohnern, das mehrere Läden, ein spektakuläres Schwimmbad und einen Campingplatz hat, der jetzt besonders von Isländern frequentiert wird.

Am nächsten Tag hat der Wind natürlich wieder gedreht und ich fahre gegen »ihn« zurück. Doch die Strecke könnte kaum abwechslungsreicher sein. Ich radele an einem aufgesetzten Fischerboot, Stränden mit glasklarem Wasser und weißen Dünenlandschaften vorbei.

Auf Schotter windet sich die Straße weiter auf einem schmalen Sims zwischen hoch aufragenden Bergen und dem Meer. Immer wieder schweift der Blick über mit Treibholz übersäte Strände und lange menschenleere Buchten.

Irgendwann wird es richtig anstrengend, hinter dem kleinen Museum beginnt der kilometerlange Anstieg über die Hochebene. Sehr steil, mit Schlaglöchern und Spurrillen übersät, ist die Strecke mit einem schwer gepackten Drahtesel kaum zu fahren. Ich schiebe eine ganze Weile. Mehrere Male halten Autofahrer an und fragen, ob sie helfen können oder ob ich Wasser brauche. Ich frage mich deshalb, ob ich so abgekämpft aussehe oder es einen anderen Grund hat. Den erfahre ich dann, als ich spät abends ziemlich geschafft in der Touristenstation ankomme. Lautes Klatschen von einer größeren Gruppe, die noch vor ihren Zelten draußen sitzt, empfängt mich. Einer winkt mir zu, reicht mir eine kalte Dose Bier und erklärt mir, dass sie sich nicht vorstellen konnten, dass dort jemand mit Fahrrad ohne Motor und mit so viel Gepäck unterwegs sein kann.

Der westlichste Punkt Europas

Zwei Tage muss ich in Breiðavík warten, da es Windböen zwischen 70 und 80 km gibt, denen man in den offenen Weiten und besonders auf den Klippen schutzlos ausgesetzt wäre. So geht es in kleinen Spaziergängen zum endlosen Sandstrand, über den der Wind wirbelt. Breiðavík liegt an einem endlosen Sandstrand, der nach Westen von hohen Sanddünen eingerahmt wird, der wehende Wind lässt es zwischen den Zähnen knirschen.

Im Winter ist das Leben hier sehr einsam, der Betreiber und seine Frau sind dann fast die Einzigen, die in einem Umkreis von 40 km hier leben. Ich muss an den alten Film »Shining« mit Jack Nicholson denken, als mir die nette Betreiberin in einer Pause erzählt, wie während eines Sturms Fenster zerbrachen und der Schnee sich immer höher im Keller auftürmte. Hilfe ist hier in so einem Fall nur per Schneemobil möglich. Die Wirtin arbeitet im Sommer in der kurzen Saison scheinbar rund um die Uhr an der Rezeption und in der Küche und hat auch in Corona-Zeiten für jeden Gast ein paar freundliche Worte übrig.

Endlich lässt der Wind nach und ich fahre über eine Mondlandschaft ähnliche Hochebene hinunter zu einer wunderschönen Strand- und Dünenlandschaft, an der heute nur noch ein paar Sommerhäuser stehen. Ein einziger Mann soll hier noch das ganze Jahr über leben. Wer hier lebt, muss die Einsamkeit mögen. Die selbst gebastelte Geschwindigkeitskamera, die sich als Vogelbrutkasten entpuppt, bringt mich zum Grinsen.

Der Himmel ist blau und Tausende Krias (Küstenseeschwalben) zischen kreischend durch den Himmel. Die Strände sehen aus wie in der Karibik, aber wer den Zeh ins Wasser hält, wird wissen, dass Grönland nur noch 300 km entfernt ist – selbst im Hochsommer sind es nicht mehr als 10 Grad Celsius. Manchmal werden in den Westfjorden auch Eisbären angeschwemmt, die auf Eisbergen das Meer überquerten und jetzt völlig ausgehungert sind. Der Leuchtturm und die Klippen von Látrabjarg kommen in Sicht.

Die höchsten Klippen Europas

Die Klippen erstrecken sich auf einer Länge von 14 km und fallen an der höchsten Stelle über 500 m ins Meer ab, die weltberühmten Klippen von Moher in Irland sind vergleichsweise nicht mal halb so hoch. Man sollte schon einen nicht so windigen Tag erwischen, schwindelfrei sein und sich maximal auf dem Bauch näher an den Klippenrand heranrobben, auch weil Teile der darunter liegenden Landschaft in den grasigen Abschnitten von den Bauten dort brütender Vögel unterhöhlt sind. Wer auf dem Weg nach Látrabjarg die Chance hat, sollte sich das sehenswerte Museum Hnjótur anschauen, in dem auch eine dramatische Rettungsaktion Schiffbrüchiger dokumentiert wird.

Zwischen April und Mitte August brüten hier Millionen Seevögel verschiedener Arten. Die besonderen Lieblinge der meisten Touristen und auch von mir sind die putzigen, tollpatschigen Papageitaucher, die hier überhaupt keine Scheu vor Menschen haben: Stundenlang beobachte ich sie aus ein paar Metern Entfernung. Die beste Zeit dafür ist der späte Nachmittag oder der Abend, tagsüber sind die Felsen eher leer, da die Vögel dann auf Nahrungssuche für ihre Jungen unterwegs sind. In einigen Regionen des Nordens gibt es sogar einen »Papageitauchertag«. An diesem feststehenden Tag kommt der überwiegende Teil der Vögel wieder zu seinen Brutplätzen an Land. Ich weiß nicht, ob es Seemannsgarn ist oder nicht, aber auf einer kleinen Insel in Norwegen sollen die Einheimischen sogar die genaue Uhrzeit für deren Ankunft kennen. Auch in Island ist die Anzahl der Papageitaucher leider vielerorts rückläufig, da sich die Meere erwärmen und sich ihre Hauptnahrungsquelle (kleine Sandaale u.ä.) weiter nach Norden in kühlere Meeresgewässer zurückzieht.

Dieser westlichste Punkt Islands und eigentlich auch Europas ist ein würdiger Platz, um diese Reisebeschreibung zu beenden, auch wenn meine Reise noch nicht zu Ende war. Man wird gerade dann, wenn man sich mit den beschränkten Kräften eines Radfahrers bewegt, stets mit einzigartigen Erlebnissen und Eindrücken entschädigt, auch wenn man natürlich immer mal über Wind und Regen flucht. Die weiten Naturlandschaften Islands sind meiner Meinung nach gerade in diesen Zeiten ein Heilmittel für Kopf und Seele, bringen mir immer dieses kindliche Staunen zurück und flößen mir gerade als Radfahrer gehörigen Respekt vor den Naturgewalten ein! Ich hoffe, dass ich etwas meiner Faszination für Island transportieren konnte – sei es mit dem Fahrrad oder auf anderen Wegen!

Weitere Infos:

Seite des Autors mit Bildern, Kalendern und Terminen: www.reinhard-pantke.de

Über den Autor

Reinhard Pantke

Der Globetrotter Reinhard Pantke (Jahrgang 67) erlebt seine Reiseziele grundsätzlich nur mit Fahrrad und Rucksack. Im Verlauf dieser Touren legte er in den letzten gut 35 Jahren insgesamt 200.000 km per Fahrrad und ohne Motor zurück. Seine besondere Liebe gehört dem Norden, seine allererste Radtour führte ihn 1983 als 17-jährigen nach Norwegen. Neben Artikeln in regionalen und überregionalen Zeitungen und Magazinen, Kalendern, Buchbeiträgen und Ausstellungen ist Reinhard Pantke auch Autor verschiedener Bildbände über Norwegen und Kanada. In normalen Jahren zeigt er im Winterhalbjahr seine Multivisionsshows einem breiten Publiikum. Für Nordis hat er er etliche Berichte über seine Lieblingsregionen verfasst.

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