Beginn einer neuen vulkanischen Ära?
Text: Erik Van de Perre
Bilder: Sven Strumann/Kría Tours
Am 19. März 2021 erwachte der Vulkanismus auf der Halbinsel Reykjanes nach fast 800 Jahren der Ruhe zu neuem Leben. In den Geldingadalir, quasi vor den Toren von Reykjavík, riss eine kleine Vulkanspalte auf, aus der seitdem kontinuierlich Lava quillt. Die Inselbewohner bezeichnen die kleine Eruption etwas ironisch als eine typische »Touristen-Eruption«. Geowissenschaftler sehen das etwas differenzierter, denn möglicherweise bildet sie den Auftakt zu einer neuen vulkanischen Ära auf der Halbinsel.
Ort des Geschehens ist der Berg Fagradalsfjall (isl. fagur = schön, dalur = Tal, fjall = Berg), ein alter Schildvulkan, 30 Kilometer südwestlich von Reykjavík. 6.000 Jahre lang war er nicht mehr aktiv, bis jetzt. Am 19 März riss spätabends gegen 21.30 Uhr (Ortszeit) in den Geldingadalir, einem unbewohnten Gebiet am Südrand des Vulkans, eine kurze Spalte auf.
Volksfeststimmung
Der Ausbruch ist effusiv, das heißt, dass Lava ruhig ausfließt. Aschebildung gibt es kaum, ganz anders als beim Ausbruch des Eyjafjallajökull im Frühjahr 2010, als Aschewolken den Flugverkehr im nordatlantischen Luftraum weitgehend zum Erliegen brachten. Solche kleinen, überschaubaren und fotogenen Eruptionen wie die jetzige, sind indes ganz nach dem Geschmack der Isländer, denn sie bringen – zumindest in coronafreien Zeiten – keine Asche in die Luft sondern aufs Konto. Mit einer gewissen Ironie werden sie deshalb als »Touristen-Eruption« bezeichnet. Nicht zu unterschätzen ist aber das Risiko der vulkanischen Gase Schwefeldioxid (schleimhautreizend) und Kohlendioxid (behindert die Atmung bis zur Bewusstlosigkeit), die sich in Senken sammeln können.
Daher warnten Wissenschaftler und Katastrophenschutzexperten die Bevölkerung eindringlich, sich vom Vulkan fernzuhalten. Eine Warnung, die von den Nachfahren der Wikinger freilich als Einladung verstanden wurde, möglichst zahlreich zum Vulkan aufzubrechen. Sie verfrachteten Kinder, Oma und Opa ins Auto, packten Smartphone, GoPro oder Drohne und einen Picknickkorb und pilgerten zu Tausenden zum Vulkan. Auf den Zufahrtstraßen staute sich der Verkehr. Am Rande der Lava herrschte Volksfeststimmung. Jeder Zusammenbruch eines Lavakegels, jeder größere Lavaerguss wurde unter lautem Gejohle beklatscht. Auf der Lava wurden Würstchen und Spiegeleier gebraten. Mit isländischem Pragmatismus wurde schon nach wenigen Tagen ein Wanderweg zu der vulkanischen Bühne abgesteckt und ein Shuttlebus eingerichtet, der »Vulkan-Touristen« in die Nähe der Ausbruchsstelle karrt.
Keine Überraschung
Für die Geowissenschaftler kam der Ausbruch alles andere als überraschend. »Ganz Island hat seit drei Wochen förmlich darauf gewartet«, sagt Páll Einarsson, emeritierter Professor für Geophysik an der Universität von Island, und weist auf die Schwarmbeben hin, die die Halbinsel Reykjanes seit 15 Monaten rockten. Als Schwarmbeben bezeichnet man eine große Anzahl von Erdbeben der gleichen Stärke, die am gleichen Ort und innerhalb kurzer Zeit stattfinden. »Als Ursache vermutete man Magmabewegungen in der Erdkruste.« Solche Schwarmbeben können tagelang andauern, oft sogar monatelang.
Die ersten Schwarmbeben auf Reykjanes manifestierten sich bereits Anfang Dezember 2019. Damals konzentrierten sich die Beben auf die Nähe des Berges Þorbjörn, nördlich von Grindavík. Zu einer Eruption kam es aber nicht. Allmählich ebbten die Beben ab, die unterirdischen Magmabewegungen gerieten ins Stocken und das Magma erstarrte vermutlich in sogenannten Dykes. Das sind plattenartige, meist weit reichende Gesteinskörper aus magmatischem Gestein, die größere Spalten ausfüllen. Páll Einarsson zieht den Vergleich mit einer »gigantischen, aufrecht stehenden Tischplatte«, 1 bis 2 Meter dick, aber oft mehrere Kilometer lang und hoch.
Am 24. Februar 2021 nahm die seismische Aktivität plötzlich wieder Fahrt auf. Ein starkes Beben mit Magnitude 5,7 auf der Richterskala bildete den Auftakt zu einer wahren Flut von Erdbeben, bis zu 3.000 pro Tag. Die Erdstöße rissen auch die Bewohner des nahen Fischerorts Grindavík aus dem Schlaf. In den drei Wochen vor der Eruption wurden über 50.000 Beben registriert, die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen 1991. Außerdem beobachteten Geologen wie sich die Erde anhob – bis zu vier Millimeter pro Tag. Rasch fanden sie heraus, dass 1 bis 2 Kilometer unter der Erdoberfläche Magma in Bewegung war. Ein Ausbruch schien nur eine Frage der Zeit.
Mittelatlantischer Rücken
Nun sind Vulkanausbrüche auf Island nichts Ungewöhnliches. Ohne Vulkanismus gäbe es die Insel sogar nicht. Denn Island ist Teil des Mittelatlantischen Rückens, einer riesigen Gebirgskette, die sich durch den gesamten Atlantischen Ozean zieht. Im Nordatlantik trennt sie die eurasische und die nordamerikanische Platte, die langsam auseinanderdriften, durchschnittlich 2,5 Zentimeter pro Jahr. Die Bewegung geschieht aber unregelmäßig, immer wieder verhaken sich die Platten und kommt es zu Spannungen.
Für Páll Einarsson sind die jüngsten Ereignisse die Folge des Zusammenspiels von Spannungen, die sich an der Grenze der beiden Platten aufgebaut haben, und dem in der Erdkruste aufsteigenden Magma. Unter Impuls des nachdringenden Magmas reißt die Kruste auf, wobei sich die Spannung meist schlagartig entlädt. »Die Energie für die Beben steckt quasi in den Erdplatten, die sich verhakt haben und das aufsteigende Magma funktioniert als Trigger.« Oft bleibt das Magma in der Kruste stecken, wie zum Beispiel 2019/2020 am Þorbjörn, manchmal erreicht es die Erdoberfläche und es kommt zu einer Eruption.
Wellenartiger Vulkanismus
Island gehört zu den vulkanisch aktivsten Gebieten weltweit, im Schnitt bricht alle fünf Jahre ein Vulkan aus. Die Insel hat 32 aktive Vulkansysteme, sechs liegen auf der Halbinsel Reykjanes. Von Ost nach West unterscheidet man Hengill, Brennisteinsfjöll, Krýsuvík, Fagradalsfjall, Svartsengi und Reykjanes. Seit 1240 war auf der Halbinsel aber kein Vulkan mehr aktiv. Den jetzigen Ausbruch im Vulkansystem Krýsuvík bezeichnet Páll Einarsson schmunzelnd als »den kleinsten Ausbruch, den man je in Island erlebt hat.« Die durchschnittliche Fließmenge von 5 bis 10 m³/s (zum Vergleich: Holuhraun 2014: 250 bis 350 m³/s) ist tatsächlich nicht beeindruckend. Dennoch könnte der Ausbruch von großer Bedeutung sein.
»Möglicherweise leitet dieser eine neue Phase intensiven Vulkanismus auf Reykjanes ein«, sagt der Geophysiker. »Eine solche Ära könnte Jahrhunderte andauern, so wie das in den letzten 3.500 Jahren der Fall war.« Dreimal flammte der Vulkanismus auf der Halbinsel in diesem Zeitraum auf: vor 3.000-3.500 Jahren, vor 1.900-2.400 Jahren und zuletzt zwischen 800 und 1240. Die Ausbruchsphasen verliefen wellenartig: Ruhephasen von 600-700 Jahren wechselten mit ca. 500 Jahre andauernden vulkanischen Episoden, bei denen es – mit Unterbrechungen – zu vielen Ausbrüchen kam. Und: In jeder Episode waren alle Vulkansysteme der Halbinsel involviert, wenn auch nicht gleichzeitig.
Die letzte vulkanische Ära begann um 800. Zwischen 900 und 1000 erreichten einzelne Lavaströme den Stadtrand von Reykjavík. Auch Teile von Hafnarfjörður stehen auf der Lava dieser Ära, die 1240 mit den »Reykjanes-Feuern« im Westen der Halbinsel zu Ende ging.
Neuer Schildvulkan?
Eine weitere bedeutsame Erkenntnis lieferte die Analyse der chemischen Zusammensetzung der Lava. Überrascht stellten die Forscher fest, dass diese stark abweicht von der Lava klassischer Spalteneruptionen wie zum Beispiel Holuhraun (2014). Aus der Analyse ergab sich, dass es sich um ein primäres (d.h. weitgehend unverändertes), sehr dünnflüssiges und kohlendioxidreiches basaltisches Magma handelt. »Verglichen mit den bisherigen Laven, die in historischer Zeit auf Reykjanes austraten, handelt es sich hier um Magma, das vermutlich aus viel größerer Tiefe stammt als alles, was in den letzten 7.000 Jahren auf Reykjanes geflossen ist«, sagt Sæmundur Ari Halldórsson, Geoforscher der Universität Island. »Die Lava ist ein olivintholeiitischer Basalt, der aus einer Tiefe von 17 bis 20 Kilometern stammt und auf direktem Wege vom oberen Erdmantel an die Oberfläche gelangte.« Das Gestein ist typisch für Schildvulkane.
Solche Vulkane produzieren dünnflüssige Lava. Sie sind oft sehr groß, fallen aber aufgrund des flachen Neigungswinkels in der Landschaft kaum auf. Aus der Ferne betrachtet erinnern Schildvulkane oft an ein umgedrehtes Ritterschild. Die bekanntesten Exemplare gibt es auf Hawaii und in Island. Der letzte isländische Schildvulkanausbruch liegt allerdings schon Jahrtausende zurück. Ein Vertreter dieses Vulkantyps auf Reykjanes ist der Vulkan Þráinsskjöldur, der vor 14.100 Jahren aktiv war. Ein weiterer bekannter Schildvulkan ist der 9.000 Jahre alte Skjaldbreiður (bei Þingvellir).
Bezeichnend für Schildvulkane ist auch, dass sie sehr lange aktiv sind, oft sogar ein Jahr oder länger. Auch das könnte ein neues Licht auf die jetzige Eruption werfen. Genaueres wird durch weitere Untersuchungen zu klären sein. Fest steht aber, dass es durch den Ausbruch zu einer Entlastung im Untergrund gekommen ist. Zahl und Intensität der Beben haben deutlich abgenommen. Und die Menschen in Grindavík schlafen wieder besser. Zumindest vorerst…
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