Die Disko-Insel vor der grönländischen Westküste ist ein echter Außenposten der Zivilisation. Wer dort unterwegs ist, sollte nicht auf allzu viel Komfort hoffen. Dafür verspricht das raue Land echten Arktis-Charme: Wildnis, Basaltfelsen und Eisberge satt.
© Text & Fotos: Folkert Lenz
Na, wenn dieses Märchen mal stimmt: Der Legende nach wurde die Disko-Insel von zwei kräftigen Kajakfahrern aus dem Süden Grönlands gen Norden gezogen – an einem Säuglingshaar. Einfach deswegen, weil sich die Robbenfänger bei der Jagd auf dem Meer von dem felsigen Bollwerk gestört fühlten. Doch eine Hexe aus Ilulissat warf einen Fluch über die zwei, sodass die Insel in der Disko-Bucht auf Grund lief.
Ein Stückchen Wahrheit ist wohl dran an der Geschichte. Denn rein geologisch betrachtet sollte die Disko-Insel nicht dort sein, wo sie nun mal ist: rund 80 Kilometer vor der Westküste Grönlands. Sie ist nämlich vulkanischen Ursprungs, die Vegetation ist ungewöhnlich grün für die harsche arktische Umgebung. Felsen und Berge sind viel schroffer als auf dem Festlandsockel von Grönland.
Das sieht man schon bei der Anreise von Ilulissat. Die Fahrt mit dem Boot quer durch die Disko-Bucht ist nichts für nervöse Mägen. Knapp vier Stunden kämpft sich das Wassertaxi durch das Auf und Ab der Wogen. Immer wieder muss der Kapitän im Schritttempo fahren, weil treibende Eisberge den Kurs versperren. Erst spät kommt die Steilküste der Insel in Sicht: rotbraune Felsen zwischen Seenebelfetzen. Das Boot flitzt an skurrilen Steinformationen vorbei. Passiert tiefe Schluchten, Felsnadeln, die die Brandung freigewaschen hat. Basaltsäulen recken sich gen Himmel. Und sattes Grün hat jedes horizontale Fleckchen Erde erobert: Ein natürlicher Hochflorteppich scheint über der faltigen Polar-Landschaft zu liegen. Auf der Disko-Insel wird klar, woher der Name Grönland (»grünes Land«) rührt.

Fantasy-Film: das Märchenland Kuannit.
Sightseeing in Qeqertarsuaq
Plötzlich kommen ein paar der traditionell knallbunten Holzhäuschen in Sicht. Das Ende des wilden Wellenrittes ist absehbar: Qeqertarsuaq – die einzige bedeutsame Ortschaft der Insel – ist erreicht. Wohl 900 Menschen wohnen dort heute. Am Bootsanleger spaziert man als erstes unter einem aufgestellten Walknochen hindurch: Beleg dafür, dass das Mini-Städtchen früher Heimat für Walfänger, Fischer und Jäger war. Touristen landen hier erst seit ein paar Jahren. So bietet fast allein das »Hotel Disko-Island« Betten für die stetig zunehmende Gästeschar an – in gediegenem Hotel-Ambiente wie auch im schlichten Hostel-Style. Seit diesem Jahr stehen am Ufer zudem zwei hölzerne Beach Igloos, die vor allem im Winter wegen der großen Fenster einen ungehinderten Blick auf die Nordlichter ermöglichen sollen.
Das Sightseeing-Programm in Qeqertarsuaq ist schnell erledigt: Die malerische Kirche, die Kuannit Kunstgalerie, das Heimatmuseum liegen alle in Fußweite vom Zentrum. Auch ein Muss: der schwarze Strand von Siorarsuit, auf dem kohlefarbener Sand mit azurschimmernden Eisbrocken ein Mosaik bildet. Und natürlich der Fußballplatz mit dem grell-grünen Kunstrasen, der einen bunten Kontrast zu den bläulich-dunklen Eisbergen bildet, die gleich hinter den Zuschauerrängen im Meer dümpeln. So bleibt Zeit, sich der Natur zuzuwenden. Und von der gibt es reichlich auf Qeqertarsuaq, wobei der grönländische Name schlicht »Große Insel« bedeutet. Wer die zentrale Siedlung bei einer Wanderung in die Wildnis verlassen will, der muss die Steilhänge hinaufklettern, die das Dorf vom Inselinneren abschirmen.
»Rein geologisch betrachtet sollte die Disko-Insel nicht dort sein, wo sie nun mal ist.«
Durch knöchelhohes Gestrüpp geht es hoch in die Lyngmark-Berge. So dünn wie der Pfad sich zeigt, so wenige Wanderer werden es in der kurzen Saison sein, die sich auf den Weg zum Gletscher Uunartuarsuup Sermia machen, der knapp 1.000 Meter oberhalb der Ortschaft liegt. Quert man zu Beginn noch plätschernde Bachläufe mit violetten, gelben und blauen Blumen daneben, so wird die Vegetation droben immer spärlicher und abgelöst von schlammbraunem Geröll. Ein ausgedienter Hundeschlitten steht plötzlich am Wegesrand, etwas weiter parkt ein Schneemobil seit dem Frühling im Gesträuch. Kurz darauf ist die Vereinshütte vom örtlichen Skiclub erreicht. Von dort aus geht es über rötliche Schneefelder. Rosa Schnee? Mineralien sollen dem Weiß den ungewöhnlichen Farbton verpassen. Zügig kommen dann die quietschblau gestrichenen Wände der Disko Mountain Lodge in Sicht, die in Panoramalage auf einem Hügel gleich neben den Apostelbergen thront.
Zwei Nächte pro Woche öffnet die schlichte Berghütte für angemeldete Gäste. Wer auf eigene Faust unterwegs ist, muss Zelt, Schlafsack und Proviant mitbringen, um für mehrtägige Touren in der grönländischen Wildnis gerüstet zu sein. Ausdauer empfiehlt sich auch für den Genuss der langen Sommerabende droben im Gebirge, denn das Licht am Himmel geht im Sommer niemals aus. So kann man auch zu Mitternacht den Ausblick über die südliche Disko-Bucht mit ihren zahllosen Eisbergen auf dem Meer oder die Weite des Lyngmark-Gletschers, der sich als Eiskappe über die Insel legt, genießen. Das Eisfeld selbst allerdings hat sich wegen des Klimawandels in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgezogen. Hundeschlittentouren, die früher nahe der Lodge starteten, werden deshalb heute nicht mehr angeboten.

sollen Ursache für das Farbspiel sein.

Missionarsstation: Ilulissat hat
eine koloniale Vergangenheit.
Mystisches Märchenland
Wer sich eher vom Grün als vom Weiß angezogen fühlt, der kann in Qeqertarsuaq aber auch eine ausgedehnte Küstenwanderung nach Kuannit starten. An der Arktis-Forschungsstation vorbei ist bald der Fluss Røde Elv erreicht. Ein bisschen abseits vom Weg findet sich ein riesiger Felskessel, in den tosend der Qorlortorsuaq-Wasserfall hineinstürzt. Wenn der Pfad sich schließlich hoch über dem Meer an der Steilküste entlang schlängelt, dann lohnt es sich, in der Tiefe nach ausgewaschenen Brandungstoren, Basaltskulpturen und atemberaubenden Lavafelsformationen Ausschau zu halten. Wasserfälle stürzen sich hier und da direkt in die See, während neongrüne Moosteppiche die Schritte dämpfen und man aufpassen muss, dass man sich im übermannshohen Wald der Engelwurz-Dolden nicht verläuft. Ein mystisch anmutendes Märchenland, bei dem es einen nicht wundern würde, wenn einem ein Zwerg, eine Fee oder ein Elf über den Weg liefe.
Im abgelegenen Qeqertarsuaq sind bis heute tiefe Einblicke in die jahrtausendealte Inuit-Kultur möglich. Zum Beispiel, wenn die Einheimischen Wale fangen. In einer Bucht am Ortsrand kann man beobachten, wie wohl ein knappes Dutzend toter Zwergwal-Leiber im blutig rot gefärbten Meerwasser treiben. Die erlegten Tiere werden gleich am felsigen Ufer ausgeweidet und noch am Schlachtplatz als Nahrung unter den lokalen Familien verteilt. Für auswärtige Beobachter mag die Szenerie verstörend wirken. Für viele indigene Volksgruppen der Arktis ist die traditionelle Waljagd aber weiter erlaubt – auch in Grönland.

Begegnungen mit Giganten
Nur ein paar Stunden ruppiger Schiffsfahrt entfernt – auf der Hauptinsel – sind moderne Walsafaris auch unter Touristen in den letzten Jahren populär geworden: Bei ganztägigen Bootstouren von Ilulissat aus legen die »Jäger« aber heute nur mit Kameralinsen auf die imposanten Meeressäuger an. Begegnungen mit den Giganten sind in der Disko-Bucht fast garantiert, denn im Frühjahr und Sommer werden Buckel-, Mink- und Finnwale geradezu angezogen von Krill, Krebsen oder Heringsschwärmen. Für die Seh-Leute auf den Touristenschiffen heißt es warten und nach einer Walfinne Ausschau halten, die aus den Wellen hervorspitzt. Bisweilen strecken die Tiere auch die Köpfe aus dem Wasser, bevor sie sich mit einer mächtigen Woge und einem Flukenwinken in die Tiefe verabschieden. Klar, dass dann die Fotoapparate klicken und klicken und klicken.
»Die beeindruckende Szenerie der Eisberge vor der ›Skyline‹ von Ilulissat ist einzigartig auf der Welt.«
Bootstouren führen auch zum kalbenden Eqi-Gletscher, dessen bläulich schimmernde Stirnwand sich vier Kilometer breit und bis zu 200 Meter hoch vor den Besuchern aufbaut. Wer es aktiver mag, der kann die arktische Meereswelt per Seekajak erfahren – mithilfe von Paddelschulen in Ilulissat. So kann man die Stille auf dem Wasser auch nicht-motorisiert genießen. Die beeindruckende Szenerie der Eisberge vor der »Skyline« von Ilulissat ist einzigartig auf der Welt. Denn der Gletscher Sermeq Kujalleq, der seine Eismassen über den legendären Eisfjord (Kangiata Sullua) ins Meer spuckt, produziert so viele Eisberge wie kein anderer auf der Welt: Fast 20 Meter pro Tag rückt er gen Polarmeer vor. Und überzieht so die gesamte Disko-Bucht mit treibenden Schollen. Was zur spektakulären Aussicht von den Hügeln über Ilulissat beiträgt.
Outdoor-Freunde können sich das Terrain erwandern. Es gibt mehrere Routen, die vom spektakulären Icefjord Centre aus das Areal erschließen. Zum Beispiel über den Bohlenweg zum historischen Inuit-Siedlungsplatz Sermermiut. Wer eine längere Draußen-Exkursion macht, der wird früher oder später auch in Nakkaavik, der Altweiberkluft, am Stadtrand von Ilulissat landen. Wo der Name der tiefen Felsschlucht herkommt? Aus einer Zeit, in der sich alte Menschen der Inuit-Sippen in Hungerzeiten von diesen Klippen stürzten. Sie opferten sich, damit die wenigen Lebensmittel für die Jüngeren reichten. Man hofft, dass diese Überlieferung auch nur ein Märchen wäre. Ist es aber nicht.

Grönland sind kulturelles Erbe
wie auch »Sportgerät«.
Allgemeine Informationen
Beste Reisezeit
Juni bis September
Anreise
Ilulissat ist die größte Touristen-Destination in Grönland. Im Sommer starten Direktflüge von Reykjavík (Island) mit Icelandair. Internationale Flüge gibt es sonst nur ab Kopenhagen, Billung und Aalborg (alle Dänemark) von Air Greenland. Derzeit ist ein Umstieg in Kangerlussuaq nötig. Seit Ende November 2024 fliegt Air Greenland den neuen Hauptstadt-Airport in Nuuk an, wo vorerst noch das Flugzeug gewechselt werden muss, bis der internationale Flughafen in Ilulissat fertig gebaut ist.
Ilulissat und die Disko-Bucht können auch mit der wöchentlich verkehrenden Passagierfähre der Arctic Umiaq Line erreicht werden.
Nordis-Tipp Wale hören! Im Juni wurde eine Unterwasser-Horchstation in Qaqqaliaq eingerichtet. Was das Hydrophon aufnimmt, ist hier zu hören: www.diskolive.com.



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