Norwegen

Eine Frau erlebt die Polarnacht

Christiane Ritter – Pionierin im ewigen Eis.


„Einmal begegneten wir einer Fliege, die unterhalb der schwarzen Berge über einem  kleinen Polster von Moos niedrig herumsummt, anscheinend ängstlich bemüht, nicht verlorenzugehen in Wind und Weite.“

Wenn in einem Reisebericht eine Fliege erwähnt wird und das obendrein als „Begegnung“ gilt, müssen die Umstände schon ganz besondere sein.

Im Sommer 1934 reist die österreichische Malerin Christiane Ritter nach Spitzbergen, um dort ein Jahr lang zu bleiben. Ihr Mann lebt dort bereits jahrelang als Jäger. Ihr Obdach ist eine winzige Hütte, die sich die Ritters mit einem jungen Norweger teilen.

Ihr Motiv: sie will die Zeit der Trennung von ihrem Mann unterbrechen. Sie scheint weder einen Hang zu Abenteuern zu haben noch eine Schwäche für Polargebiete.

Unter den drei Überwinterern gibt es eine klassische, fast archaische Rollenverteilung – die Männer gehen auf die Jagd, die Frau führt den Haushalt.

Erst in den 20er Jahren hatten sich Frauen etwas mehr Unabhängigkeit in der Gesellschaft erstritten. Schon in den 30ern war es damit vorbei: der aufkommende Nationalsozialismus propagierte treue, pflichtbewusste Mütter in traditionellen Familien als Ideal.

Aufenthalte in Polargebieten: damals eine Domäne von Männern – abgesehen von den indigenen Völkern des Nordens. Dass Frauen Reisen in kalte Zonen unternahmen oder gar dort überwinterten, war sehr selten. Christiane Ritter durchbrach diese Domäne und auch das altmodische Rollenbild.

Noch bei der Anreise mit einem Passagierschiff versucht man sie von ihrem Plan abzuhalten – mit Verweis auf ihr Geschlecht. Sozialen Gegenwind dürfte sie auch erlebt haben, weil sie ihre Tochter bei der Oma zurücklässt.

„Ein schauerliches Land ist es, denke ich mir im Stillen.“ schreibt sie über ihre Ankunft. Es scheint kein leichter Start gewesen zu sein. Ihre Schilderungen der ersten Tage klingen wenig begeistert. Aber sie behauptet sich. Sie hat Respekt vor der Kälte, den Stürmen und der Dunkelheit der Polarnacht. Doch selten wirkt sie ängstlich, sie scheint eher eine pragmatische Problemlöserin zu sein.

Von den beiden Männern wird sie als vollwertiges (wenn auch wenig erfahrenes) Mitglied anerkannt. So muss sie oft eigenständig weit entfernte Tierfallen kontrollieren oder viele Tage lang allein bleiben, während die Männer auf der Jagd sind. Selbst ein einfacher Gang vor die Tür wird bei oft komplett zugeschneiter Hütte zur Herausforderung.

Den einzigen Kontakt zur Außenwelt bilden Briefe, die alle paar Monate über Nachbarn (der nächste in 90 km Entfernung) zugestellt werden – wenn das Wetter eine vielstündige Tour per Ski oder zu Fuß zulässt. Temperaturen von dreißig Grad unter Null erscheinen bei Schneetreiben und starken Stürmen als geringstes Problem.

Die Erwähnung der Fliege sagt einiges über Christiane Ritter als Frau und Künstlerin aus. Männer machten sich damals auf den Weg, weil sie entweder etwas entdecken, beweisen oder sich in der rauen Natur behaupten wollten. Derlei Ehrgeiz ist ihr fremd.

In ihrem Buch beschreibt sie die Arktis über Wahrnehmungen und Empfindungen, die die Kälte, das Polarlicht und die Wiederkehr des Sonnenlichts im Frühjahr auslösen. Außerdem hält sie ihre Eindrücke in Zeichnungen fest, die Teil des Buches werden. Damit berichtet sie aus einer damals neuen Perspektive über die Region. Die Berichte von Männern wirken eher sachlich, mitunter heldisch.

Eines ihrer großen Themen ist die arktische Natur mit ihren Stürmen, der Kälte und den Polarlichtern. Nach der finsteren Polarnacht erlebt sie die letzten Monate ihres Aufenthaltes als wahren Rausch aus einem Übermaß an Sonne und der Fülle des zurückkehrenden Lebens.

Der Abschied im Spätsommer 1935 fällt ihr schwer.

Dass ihr die Besonderheit ihrer Reise bewusst war, ist offensichtlich. Schlüsse darauf lassen aber nur der Buchtitel und die ersten Seiten zu. Nie jedoch stellt sie ihren Mut und ihre Pionierleistung in den Vordergrund. Dass sie andere Frauen ermutigt haben dürfte, Gleiches zu tun und die Arktis nicht den Männern zu überlassen, kann nur vermutet werden.

„Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis nicht her für den Preis einer Schiffskarte. Man muss hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muss in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben. In der Wiederkehr des Lichtes, im Zauber des Eises, im Lebensrhythmus der in der Wildnis belauschten Tiere, in der ganzen hier in Erscheinung  tretenden Gesetzmäßigkeit alles Seins liegt das Geheimnis der Arktis und die gewaltige Schönheit ihrer Länder.“

Vor 85 Jahren ist die Erstauflage von Christiane Ritters Buche „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ im Berliner Propyläen-Verlag erschienen.

Über den Autor

Karsten Zeidler

Ich bin Geograph und fotografiere sehr gerne, am liebsten in den Bereichen Landschaft und Natur. Ich mag einsame und schroffe Landschaften im beeindruckenden Licht. Kein Wunder, dass es mich seit Mitte der 90er Jahre regelmäßig in den Urlaub nach Skandinavien zieht. Seit 2012 ist der Winter meine bevorzugte Jahreszeit. Die Zeit zwischen den Urlauben verbringe ich besonders gerne mit dem Schreiben über meine Reisen und dem Präsentieren von Fotos.

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